Liebe Freunde der Moldovahilfe,
angstvoll aufgerissene Kinderaugen, leise Schreie: die alte Dame bekommt ihre eigene Krücke gegen den Hals gedrückt! Sie ringt nach Luft, sie fällt vom Stuhl … Fast zu realistisch spielen die vier Damen eine Adaption von Ion Creangas „Die Schwiegermutter mit den drei Schwiegertöchtern“. Adaption deswegen, weil Creanga 1875 sicher noch nicht wusste, was ein Handy ist, wie man per Skype mit seinen Freunden kommuniziert oder dass Familie Batir die Strecke zwischen Chioselia und Costangalia nicht selten mit einem roten Mercedes zurücklegt …
Die Schwiegermutter mit ihren drei Schwiegertöchtern
Wo sind wir? Nirgends anders als in unserem Sozialzentrum, dem früheren Kindergarten, „Bethania“ in Costangalia, wo am Freitag, dem 6. März 2015, eine ehrenamtliche Theatergruppe im großen Raum im Erdgeschoss „Soacra cu trei nurori“ darbietet. Geleitet von der Frau des Ortspriesters, studierte Psychologin, im Hauptberuf Mutter dreier kleiner Kinder sowie Sozialkundelehrerin zehn Dörfer weiter, und im Stück die perfekte Verkörperung der „Zicke aus der Stadt“, geben die Frauen einem Publikum aus 9 älteren Damen, 1 älterem Herren, ca. acht Jüngeren (freilich incl. Angehörigen der Darsteller) aus dem Dorf sowie Felix und Christian aus Berlin mit der Parabel über eingefahrene Rollenmuster und ihre (überdrehte) Überwindung einiges zu denken und auch zu diskutieren.
Widerspruch (gegen den Autor, nicht die Schauspieler) wird laut: „Ich war immer eine gute Schwiegertochter!“ – und nach einer Pause: „… und ich war meinen Schwiegertöchtern immer eine gute Schwiegermutter!“ Doch dann berichtet eine andere Frau, halblaut, von der Verwandten, die man zitternd im Hasenstall fand, in den sie sich vor Verwandten zu flüchten pflegte. Man lacht; wegen des „Hasenstalls“; doch es ist Nachdenklichkeit im Raum. Über Rollen; über häusliche Gewalt wohl auch; man ahnt eher als es zu hören, wie das Stück Gedanken, Erinnerungen, Assoziationen, wohl auch ein Stück Selbstwahrnehmung angestoßen hat bei denen, die überwiegend eigentlich nur eine warme Mahlzeit abholen oder einnehmen wollten. Wir staunen, wie behutsam und doch kraftvoll und zielsicher Frau Esanu ihrerseits das Publikum abgeholt hat.
Das Team des Sozialzentrums (plus Nadja, Christian und Felix)
Wir staunen überhaupt eine Menge auf dieser Fahrt – wenngleich das gewiss ein besonderes Highlight war. Über die gerade 25jährige Mariana Sinigur, die wir seit 6 Monaten als Pädagogische Koordinatorin beschäftigen und die sich mit Hartnäckigkeit und großer Professionalität um ständige Verbesserung der Arbeit mit den Kindern und der Angebote des Zentrums kümmert, auch gegen Widerstand und Trägheit; dann aber auch über die Begeisterung, mit der unser kleines Team die Verlängerung der Öffnungszeiten (bis 17 statt 16 Uhr) aufgreift. Wir staunen über die seit kurzem gut funktionierende warme Dusche und erst recht über die Freude, mit der Elena ihrer neuen Aufgabe als „Duschhelferin“ für Menschen entgegensieht, die sonst in ihren „Häusern“ verdrecken.
Wir staunen über den Plan, alle Straßen und Häuser in diesem Dorf mit Namen und Hausnummern zu versehen; auch wenn die Postfrau witzelt, dass man bestimmt noch lange eher weiß, wer wo wohnt, als dass man sich die Adressen der Leute merken könnte (oder müsste). Wir staunen über die geschmackvoll und doch robust wirkende Tapete im „Speiseraum“, dem Vernehmen nach weiterhin die einzige Sozialküche im Bezirk, in der direkt warmes Essen ausgeteilt (bzw. den Bettlägerigen und Behinderten noch warm nach Hause gebracht) wird, während überall sonst am Monatsanfang schlicht Rationen in die Haushalte verteilt werden. So bewährt sich der Doppelsinn des Wortes: Essen für die „sozial Schwachen“ bringt diese auch an einen Tisch, gibt ihnen Gelegenheit zum „Sozialkontakt“.
Und schon strömen die Kinder herbei, ein wenig in Alterswellen, weil wie überall auf der Welt Schule je älter desto länger geht; sie malen, sie basteln, sie toben, sie – männlich – holzarbeiten, sie – weiblich – proben Choreographien vor YouTube-Videos im Computerraum, sie machen Hausaufgaben, sie bekommen nach ein paar Stunden eine Honigstulle …
Wenn man bedenkt, dass wir eigentlich selbst nicht so richtig wussten, was ein „Sozialzentrum“ eigentlich ist oder sein könnte, als wir vor rund zwei Jahren damit angefangen haben – aus ein paar Ideen ist in eigentlich erstaunlich kurzer Zeit eine weitgehend gut funktionierende Einrichtung geworden, die gerne angenommen wird, und die – so hoffen wir – den Menschen, Jungen wie Alten, eine wirklich substantielle Hilfe im Alltag bietet. Gar kein Zweifel, mit Mariana Sinigur haben wir einen guten Griff getan (s. Rundbrief v. 03.12.14).
Was noch? Die Schließung der Schule ist bisher nicht wieder Thema geworden und wird es wohl auch nicht; denn ein unerwarteter Nebeneffekt sowohl der Krise der Wirtschaft in den südeuropäischen Staaten als auch der in der Ukraine insgesamt ist eine merkliche Rückwanderung junger Erwachsener in dieses zwischen West- und Osteuropa immer noch hin- und hergerissene Land, und so zieht auch die Kinderzahl wieder an. Freilich auch der Lei-Kurs, und was für uns „positiv“ ist, weil wir pro Spender-Euro mehr Lei bekommen, ist für das Land selbst natürlich ein Problem (Kaufkraftverfall). Erstaunlich auch, wie unterschiedlich die Zuschreibungen der Menschen für die Gründe sind – sind „die Europäer“ schuld, oder „die Russen“, oder „die da oben“? Das hören wir alles; aber noch mehr Menschen spekulieren wohl gar nicht darüber, sondern nehmen das Leben wie es kommt – solange der Kohl hinterm Haus wächst und ein Huhn im Hof gackert, kommt man schon irgendwie durch …
Wieder einmal frage ich mich auf dieser Fahrt, wie schon manches Mal in Moldova und wie auch anderswo auf der Welt, wo die Grenze zwischen – oft angebrachter und hilfreicher – Ruhe, Gelassenheit, Unerschütterlichkeit, Schicksalsergebenheit als positivem Charakterzug einerseits und Lethargie, Antriebslosigkeit, Hilflosigkeit dem Schicksal gegenüber, als dessen negative Ausprägung andererseits, liegt.
Ist es „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, wenn ich mich darüber ärgere, dass der Zaun des Außengeländes über weite Strecken niedergelegt ist, überall der Müll herumliegt, die Sickergrube offen liegt? Oder wäre es nicht vielleicht doch objektiv auch aus Sicht eines Moldauers besser, das Leben ein wenig schöner, sogar einfacher, wenn man von sich aus ein wenig Ordnung hielte, Müll einsammelte, Kaputtes reparierte, ohne dass man dafür eigens einen „Tritt aus Deutschland“ braucht, Gefahrenquellen entschärfte oder beseitigte? Nervt es denn die Bürger nicht selbst, über schlammige Pfade zu ihren Häusern zu traben, auf denen irgendwo selbst ein Traktor aufgeben müsste, geschweige denn der kleine Leihwagen, mit dem wir unterwegs sind?
Aber es gibt gottlob auch die anderen, die Aktiven, die Aktivisten: unsere Übersetzerin Nadja mit ihrer unerschütterlichen Fröhlichkeit und Ausdauer, die trotz ihrer Aufenthalte in Deutschland gar nicht ans Auswandern denkt, sondern mit einem Uni- und einem privaten Sprachschul-Job in 12- bis 14-Stunden-Tagen unter zweihundert Euro im Monat verdient; Irina, die nebenamtlich unentwegt für die Pfadfinder-Bewegung arbeitet, um jungen Menschen Gemeinsinn und Naturerlebnisse nahezubringen …
Über eben diese Schlammpfade traben wir deswegen auch mit den Sozialassistentinnen in die letzten Winkel von Costangalia und Chioselia/Tarancuta, um Stipendiaten-Kandidat(inn)en zu besuchen – junge Menschen (7 weiblich, 1 männlich), von denen das kleine Auswahl-Komitee aus Schule und Sozialamt meint, sie seien a) gut genug, um eine weiterführende Ausbildung zu „packen“, und b) familiär in solchen Umständen, dass sie ohne Hilfe von außen keine machen würden oder könnten.
In allen acht Fällen sind wir beeindruckt von der Treffsicherheit, mit der Valentina Axenti und Alina Munteanu nebst der Lehrerin der 9. Schulklasse diese Vorgaben beachtet haben. Meine persönliche Favoritin ist ein Mädchen, das wie (der spätere König) David von den Schafen geholt werden musste, als der Prophet Samuel kam (1. Samuel 16, Vers 11 f. – kennen Sie die Geschichte noch aus dem Kindergottesdienst??) – die Mutter krank, der Vater mit Arbeit und den kleineren Geschwistern so ausgelastet, dass an Hausaufgaben machen nicht zu denken ist – und doch eine hellwache Heranwachsende mit gutem Ausdruck und (vergleichsweise) klaren Vorstellungen, als nahezu einzige auch mit einem „Plan B“ – falls ihr Wunschtraum, Medizin, nicht funktionieren sollte. Ich wünsche ihr alles Gute – und ich bin sicher, nur gut ausgebildete und doch bodenständig gebliebene junge Leute können das Land voranbringen und als Katalysatoren wirken, andere in „gesunde“ Bewegung zu bringen.
Und wir werden weiter Geduld und auch Demut und Bescheidenheit von unseren moldauischen Freunden und Partnern lernen; denn es ist – ich denke, das ist das geheime Erfolgsrezept unserer Arbeit über all die Jahre – immer ein Geben und Nehmen geblieben.
Werden oder bleiben Sie ein Teil dieses Austausches – was wir an Materiellem und an Ideen geben, bekommen Sie und wir zehnmal zurück, an Fröhlichkeit, an Dankbarkeit für alles Unscheinbare und doch so Wichtige, was blüht, gedeiht und funktioniert; an Gelassenheit und Lebensklugheit; an einem Blick, der über unseren täglichen kleinen Tellerrand hinausgeht.
Herzlich grüße ich Sie und wünsche eine schöne, eine gesegnete nachösterliche Freudenzeit